Aristoteles hat sich in mehreren seiner Werke dem Thema „Angst“ gewidmet, das er auch in seinem berühmten Konzept der „Lehre von der gesunden Mitte“ behandelt. Dieser Lehre zufolge stellen die positiven menschlichen Charaktereigenschaften jeweils die Mitte zwischen einem Mangel und einem Übermaß dar. So bildet die Tapferkeit die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit. Der große griechische Philosoph verdammt die Angst also nicht prinzipiell, sondern lehnt sie nur dann ab, wenn sie ein Übermaß erreicht, also zur Feigheit wird.
Wer selbst in großer Gefahr keinerlei Angst hat, der ist Aristoteles zufolge nicht tapfer, sondern tollkühn. Es geht darum, in einem angemessenen Maße Angst zu haben, was laut dem Philosophen der Mensch von Kindheit an durch Gewöhnung erreichen kann, indem er seine Angst im richtigen Augenblick überwindet und ihr im richtigen Augenblick nachgibt. Auch wenn Aristoteles seine Lehre bereits im vierten Jahrhundert vor Christus entwarf, so ist sie doch bis heute durchaus von praktischer Relevanz.
Der Zustand der Angst spielt in unserer Gesellschaft nämlich mehr denn je eine große Rolle. Die Vielfalt an Informationen, die uns heute rund um die Uhr zur Verfügung stehen, und von denen eine große Anzahl mehr falsch als richtig sind, bieten jedem Menschen, jeder Persönlichkeit, jedem Charakter die für ihn passende Krise. Und diese verschiedenen Zukunftsängste haben enorme Auswirkungen auf unsere Wirtschaft, Finanzen, Politik und Kultur.
Mit einigen der in der heutigen Zeit am meisten gefürchteten Krisen wollen wir uns im vorliegenden Magazin befassen, darunter die Angst vor einer Klimakatastrophe oder die Angst vor dem Great Reset. Dabei soll es weniger darum gehen, welche dieser Ängste berechtigt sind und welche nicht, sondern eher darum, wie Panik und/oder Apathie der Krise den Weg eben und ihr Entstehen unaufhaltsam machen. Weiterhin werden wir uns damit befassen, auf welche Krisen die Bundesrepublik gut und auf welche sie nicht gut vorbereitet ist. Und wir werden aufzeigen, wie sich die Finanzbranche die verschiedenen Ängste der Menschen zunutze macht.
Apropos Finanzen: Für Anleger ist es nicht nur entscheidend zu wissen, welche Krisen tatsächlich drohen, damit sie sich entsprechend absichern können. Ebenso wichtig ist es zu wissen, welche Krisen die Mehrheit der Anleger insgesamt fürchten und was man dagegen tun kann. Denn die Bewertungen und Kurse der Wertanlagen hängen nicht davon ab, was tatsächlich geschehen wird, sondern davon, was die Mehrheit der Anleger erwartet.
Nehmen wir an, ein Investor glaubt nicht an die – angeblich bevorstehende – Krise auf dem, sagen wir mal, Automarkt. Also behält er seine Aktien. Und tatsächlich: Die Probleme sind herbeifantasiert, die Angst völlig unbegründet. Doch die Mehrheit der Investoren glaubt an die sich anbahnende Krise. Sie stößt ihre Aktien ab, die Kurse fallen – das heißt, obwohl unser Investor die Zukunft korrekt vorhersagte, verliert er, weil die anderen Investoren die Zukunft eben nicht richtig einschätzten.
Daher ist es von Vorteil, nicht nur die Fakten und Zusammenhänge zu kennen und eine realistische Vorstellung von der Zukunft zu haben, sondern auch die Prognosen der anderen Marktteilnehmer zu verfolgen – auch wenn diese absurd zu sein scheinen – und dann die entsprechenden Folgen dieser Prognosen für die Bewertungen der verschiedenen Anlageformen abzuschätzen. In dieser Hinsicht ist die Geldanlage weniger ein Schach- als ein Pokerspiel.
Der legendäre Investor George Soros spricht in diesem Zusammenhang von „Reflexivität“, womit er meint, dass nicht die rationale Beurteilung der entscheidende Faktor bei der Preisfindung ist, sondern die Annahmen der Investoren, da diese Annahmen die erwartete Entwicklung tatsächlich herbeiführen können, was wiederum die Annahmen der Investoren beeinflusst, usw. Dieser sich selbst verstärkende Prozess kann dazu führen, dass irrationale Annahmen irrationale Preisblasen bilden.
Soros sieht die globale Finanzkrise als ein Beispiel für seine Theorie: Als die Banken wegen der steigenden Immobilienpreise mehr Hypothekenkredite vergaben, führte das wiederum zu einer größeren Nachfrage und damit zu einem Anstieg der Preise. Schließlich platzte die Blase, was die Große Finanzkrise und eine globale Rezession nach sich zog. Wenn diese Theorie stimmt, so folgt daraus vor dem Hintergrund der derzeitigen allgemeinen Krisenerwartungen in Sachen internationales Finanzsystem, dass man schleunigst beginnen sollte, sich entsprechend vorzubereiten – denn die Angst vor dem großen Crash ist allgegenwärtig.