Rechtsstaat in Gefahr: Bringt Corona eine neue Ordnung?

Rechtsstaat in Gefahr: Bringt Corona eine neue Ordnung?

  • Dezember 2020

Die Diskussion um den Rechtsstaat ist in der Corona-Krise so aktuell wie lange nicht mehr. Ein erheblicher Teil der Menschen sieht die Hygienemaßnahmen der Regierung als eine massive Bedrohung für den Rechtsstaat an, da hier im großen Stil fundamentale Grundrechte der Bürger eingeschränkt werden. Ein anderer erheblicher Teil der Menschen betrachtet wiederum die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen als eine grobe Missachtung des Rechtsstaats, weil die zahlreichen Teilnehmer der Demonstrationen sich teils nicht an die von der Regierung beschlossenen Regeln halten – darunter Demonstrationsverbote.

In einem Rechtsstaat sollen, so lautet die Idee, alle an dasselbe Recht und Gesetz gebunden sein – und zwar nicht etwa nur der kleine Mann auf der Straße, sondern auch die Reichen und Mächtigen – und vor allem auch die staatlichen Institutionen, also zum Beispiel die Regierung, Behörden, Polizei und Geheimdienste. Diese Bindung aller Bürger an gemeinsame Gesetze ist eine neuere Alternative gegenüber jenen älteren Staatsformen, wo nur die Bürger an die Gesetze gebunden waren, die der Herrscher erlassen hatte. In einem Rechtsstaat hingegen soll der Regent nicht der Urheber der Gesetze sein, sondern ihr Verteidiger.

Woher rührt nun also das positive Bild, das wir heute mit einem Rechtsstaat verbinden? Sind es möglicherweise nur die friedlichen und wirtschaftlich aufstrebenden sieben Jahrzehnte der Bundesrepublik, die für uns das Sinnbild eines Rechtsstaats waren? Es scheint doch so zu sein, dass es letztlich gar nicht entscheidend ist, wer die Gesetze macht und ob auch der Herrscher sich daran halten muss oder nicht. Viel wichtiger scheint es doch zu, dass Recht und Gesetz gerecht sind. Wenn uns die Regierung zum Beispiel verbieten würde, Weihnachten zu feiern, dann wäre es unwesentlich, ob die Regierung trotzdem Weihnachten feiern darf oder nicht. Entscheidend wäre, dass dieses Verbot ungerecht ist.

Schon der griechische Philosoph Aristoteles war im oben genannten Sinne ein starker Befürworter des Rechtsstaats, auch wenn dieser Begriff erst viel später auftauchen sollte. Er schrieb bereits im 4 Jahrhundert vor Christus: „Es ist besser, dass das Gesetz regiert als irgendeiner der Bürger.“ Wenn es vorteilhaft sei, einigen bestimmten Personen die oberste Macht zu übertragen, sollten diese nur zu Hütern und Dienern der Gesetze ernannt werden. Denn durch irgendwen müsse die oberste Macht schließlich vertreten werden. Und nachdem die bestmöglichen Regeln im Gesetz festgelegt seien, sollten die Einzelheiten bei deren Anwendung dem Ermessen des Magistrats überlassen sein.

Diese Vorstellung des Aristoteles, eine Regierung sollte sich damit begnügen, Gesetze nicht schreiben, sondern lediglich zur Anwendung zu bringen, ist heute offensichtlich nicht die Realität. So ist etwa die Bundesregierung nicht nur bei der Erarbeitung immer neuer Gesetze stark engagiert, sondern sogar die Verfassung wird vom Parlament abgeändert, wenn die Regierung dies so anstrebt. Und immer wieder muss das Verfassungsgericht der Regierung auch attestieren, dass sie geltendes Recht gebrochen hat.

Der Grund für die unaufhörliche Flut immer neuer Gesetze wird damit begründet, dass die Welt heute komplizierter ist als zu Aristoteles‘ Zeiten. Die technologischen Möglichkeiten und in der Folge auch die Gesellschaft insgesamt verändern sich heute so schnell, dass auch Verfassung und Gesetze notwendigerweise Änderungen durchmachen müssen, heißt es. Bedeutet dies, dass eine Herrschaft der Gesetze im Sinne von Aristoteles in der modernen Welt schlicht unmöglich ist? Denn die Bürger werden sich nicht mehr an Recht und Ordnung gebunden fühlen, wenn dies etwas ganz Beliebiges ist, das sich jederzeit ändern kann.

Und dies ist nun das Problem, dass hierzulande in der Coronakrise zu eskalieren scheint. Der jeweilige politische Gegner wird als Feind des Rechtsstaats angesehen, der die gemeinsamen Regeln nicht mehr verteidigt und sie noch nicht einmal mehr respektiert. Wer den politischen Gegner erst einmal als jemanden wahrnimmt, der sich nicht an ein gemeinsames Recht gebunden fühlt, der wird irgendwann auch selbst nicht mehr dazu bereit sein. Der Konflikt läuft leider darauf hinaus, dass beide Seiten Recht und Gesetz schließlich nur noch als ein Mittel im Kampf gegen den politischen Gegner betrachten werden: als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

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