Flüchtlings-Krise: Einladung mit Folgen

Flüchtlings-Krise: Einladung mit Folgen

  • September 2015

Angela Merkel sagt: „Ich möchte, dass Europa diese gesellschaftliche, ökonomische, kulturelle und moralische Bewährungsprobe besteht. Gemeint ist die Flüchtlingskrise. Wer dieser Tage in Ungarn mit ganz normalen Leuten spricht, bekommt zu hören: „Das ist Wahnsinn, wir verstehen die Deutschen nicht mehr. Niemand weiß, wie Hunderttausende aus einer völlig anderen Kultur zu integrieren sein sollen. Es ist ein Albtraum.“ Viktor Orbans Politik wird in Ungarn von einer überwältigenden Mehrheit getragen. Dasselbe gilt für die Slowakei und Tschechien. Hier hört man: „Wir hatten 40 Jahre Kommunismus, in denen uns die UdSSR gesagt hat, was für uns gut ist. Und nun kommt die EU und macht dasselbe.“

Angela Merkels größter Fehler ist, dass sie ganz Europa eine „moralische“ Haltung vorschreiben will. Sie stellt Forderungen an die Bürger. Doch die Regierung hat keine Forderungen zu stellen. Sie hat nicht Moral zu predigen oder zu versuchen, die Gesellschaft nach Opportunitäten zu verändern. Im Fall der Flüchtlinge ist es nun die wirtschaftliche und demografische Opportunität, nach der sich die Bürger zu ändern hätten.

Bis heute behauptet Merkel, sie sei überrascht gewesen von dem Ansturm. Die Fakten sind anders: Die EU-Politik unter Merkels Führung hat die Flüchtlinge in eine Falle laufen lassen. Dann hat man die Grenzen aufgemacht, drei Tage später wieder geschlossen. Nun versucht man den Leuten einzureden, alles sei unter Kontrolle.

Die ökonomische Bewährungsprobe kommt allerdings erst: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat gesagt, dass nur jeder zehnte Flüchtling für Ausbildung oder Arbeit qualifiziert sei. Das bedeutet, dass 90 Prozent aller Flüchtlinge in Sprachkurse und Ausbildung gebracht werden müssen. Sportlich gerechnet werden diese Leute dem Arbeitsmarkt dann in vier Jahren zu Verfügung stehen. Ärzte mit Muttersprache Deutsch brauchen etwa 12 Jahre, bevor sie eingesetzt werden. Doch die ökonomische Komponente scheint die Agenda Merkels zu sein: Sie hat die Arbeitsagentur und das Bundesamt für Migration (BAMF) mit einer Personalunion an der Spitze zusammengelegt.

Die ökonomische Bewährungsprobe ist allerdings die größte Chuzpe: Es ist erstaunlich, dass gerade linke und grüne Intellektuelle der Kanzlerin erfolgreich eingeredet haben, dass integriert ist, wer einen „Job“ hat. Mit den Ländern wurde nun ein Finanzierungsplan ausgearbeitet: 670 Euro pro Flüchtling pro Monat. Die Integration hat nun ihr Preisschild, ihre Kopfprämie. Die radikale Verkürzung des Menschen auf einen Kosten- und Produktionsfaktor wird gerade von jenen forciert, die sonst gegen die Ausbeutung wettern. Hans-Werner Sinn, der große Deuter der Welt als ökonomisches Perpetuum, hat den Gedanken logisch zu Ende gedacht: „Lohndumping für alle“ heißt das Gebot der Stunde.

Denn für das global vagabundierende Kapital ist der Zustrom der Flüchtlinge eine historische Chance: Wenn es gelingt, hunderttausende Menschen umzusiedeln und anderswo zu billigen Produktionskräften zu machen, können die Gewinne sprudeln – ohne dass die Unternehmen die Kosten einer Produktionsverlagerung auf sich nehmen müssen. Wenn das Experiment gelingt, ist die Macht der Gewerkschaften für immer gebrochen. Wie das geht, sieht man bei Amazon: Die Kunden merken gar nicht mehr, ob gestreikt wird.

Wenn Europa die Bewährungsprobe wirklich besteht, wird sich der IS die Hände reiben – und vermutlich auch die Türkei, in der Erdogan zu Kultfigur wird. Denn die Kriege im Nahen Osten sind ihrer Natur nach ethnische Säuberungen. Es kämpfen nicht mehr Staaten nach dem internationalen Kriegsrecht, sondern religiöse und ethnische Gruppen gegeneinander. Die Vertriebenen müssen fliehen, weil das Schicksal es so wollte, dass sie auf dem falschen Flecken auf der Erde geboren wurden. Die ethnischen Säuberungen betreffen Muslime, Christen, Jesiden, Kurden, Drusen und viele andere mehr. Die ethnischen Säuberungen sind besonders brutal und erfolgreich, weil Deutschland, die USA, die EU-Staaten, Russland, der Iran und die Golfstaaten durch Waffenlieferungen oder Beteiligung an Kampfhandlungen dazu beigetragen haben, dass die Konflikte zu einem Bürgerkrieg angefacht wurden. Und nun werden die Tore geöffnet, um jenen, die vertrieben wurden, eine neue Chance zu geben. Doch nicht aus Altruismus, sondern aus knallharter wirtschaftlicher Berechnung.

Der Preis, den der Westen für die vermeintliche Belebung des Arbeitsmarkts in einer alternden Gesellschaft zahlt, ist hoch: Er besteht in der Missachtung von Menschenrechten und Völkerrecht.

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