Transhumanismus: Mensch, Maschine, Gott

Transhumanismus: Mensch, Maschine, Gott

  • Dezember 2021

Ein in den Schädel implantierter Chip, von dem eine drahtlose Verbindung zu einem Computer besteht. Eine zentrale Plattform namens „Metaversum“, in der die virtuelle und die reale Welt miteinander verschmelzen, und in der wir einen großen Teil unseres Lebens verbringen. Oder die Digitalisierung des Geistes eines Verstorbenen, um ihn in einer Computersimulation weiterleben zu lassen.

Geschichten aus einem Science-Fiction-Roman? Originelle Einfälle von berühmten und beliebten Autoren wie Jules Verne, H. G. Wells, Aldous Huxley oder Frank Schätzing?

Nein. Alle drei oben beschriebenen Szenarien sind tatsächlich existierende Forschungsprojekte. Sie entstammen nicht der Fantasie eines Schriftstellers, sondern wurden von Technologie- und Digital-Visionären erdacht, hinter denen große Konzerne und Abermilliarden von Dollars stecken. Der implantierte Chip: ein Projekt des Unternehmens „Neuralink“, hinter dem der reichste Mann der Welt, Tesla-Chef Elon Musk, steht. Metaversum: ein Konzept, in das Facebook-Gründer Mark Zuckerberg viel Geld investiert. Und die Digitalisierung eines menschlichen Geistes: Daran arbeitet das vor drei Jahren an der amerikanischen Elite-Universität „Massachusetts Institute of Technology“ (MIT) gegründete Unternehmen „Nectome“.

Die hier genannten sind nur einige von vielen Beispielen von Technologien, deren Erfinder eine Verschmelzung von Mensch und Maschine anstreben. Erfinder, die die natürlichen Grenzen, welche die Natur uns Menschen setzt, zu überwinden suchen. Deren Ziel es ist, den transzendentalen Menschen zu schaffen. Man könnte auch sagen „Mensch, Maschine und Gott“. So hat dann auch unser Autor Prof. Dr. Werner Thiede seinen Artikel betitelt, in dem er mit diesem in seinen Augen gotteslästerlichen, naturwidrigen und in letzter Hinsicht menschenfeindlichen Unternehmungen hart ins Gericht geht.

Aber hat Prof. Thiede mit seiner Kritik Recht? Handelt es sich bei diesen Projekten nicht vielmehr um kühne Versuche, die menschliche Zivilisation weiterzuentwickeln? Den Menschen sein evolutionäres Potenzial ausschöpfen zu lassen? Ist die technologisch-gestützte Optimierung des Menschen vielleicht Ausdruck des natürlichen Drangs, die menschliche Existenz durch fortschrittliche Technologien zu verbessern? Ist sie möglicherweise sogar eine moralische Pflicht?

Wir wissen nicht, wie diejenigen, die diese Projekte vorantreiben, diese Fragen beantworten würden. Was wir wissen, ist, dass sie alle Anhänger derselben Denkrichtung – andere würden vielleicht sagen, derselben Ideologie – sind: der des Transhumanismus. Dieser geht auf den britischen Schriftsteller William Winwood Reade zurück, der die grundsätzlichen transhumanistischen Ideen in seinem 1872 erschienenen Werk „Das Martyrium des Menschen“ postulierte (Zyniker würden vielleicht anmerken, es sei keine Überraschung, dass sich Reade während des Schreibens im Fieberwahn befand).

Die zweite grundlegende Schrift des Transhumanismus ist das 1929 erschienene Buch „Die Welt, das Fleisch und der Teufel“ des irischen Universalgelehrten John Desmond Bernal. Der war übrigens Kommunist, was man von den heutigen führenden Anhängern der transhumanistischen Weltanschauung nun wahrlich nicht behaupten kann (oder können Sie sich vorstellen, dass der 300-Milliarden-Mann Elon Musk Enteignungs-Fantasien hegt?). Es ist sogar wahrscheinlich, dass die meisten modernen Transhumanisten weder das Werk von Reade noch das von Bernal kennen, geschweige denn gelesen haben. Aber sie stehen in der geistigen Tradition der beiden Autoren – eine Tradition, die unter anderem vom ehemaligen UNESCO-Generalsekretär Julian Huxley weitergeführt wurde. Der studierte Biologe veröffentlichte 1957 seine Essay-Sammlung „New Bottles for New Wine“ (Neue Flaschen für neue Weine“), in dem er unter anderem der Eugenik das Wort redete.

Sind die heutigen Transhumanisten, vor allem die mit viel Macht im Silicon Valley, Eugeniker? Dafür gibt es keine Belege, in den meisten Fällen noch nicht einmal Anzeichen. Aber: Sie haben eine klare Vorstellung davon, was gut für uns ist – das beweisen sie Tag für Tag, wenn sie das Wirken ihrer jeweiligen Unternehmen als ungemein positiv und gewinnbringend für die Menschheit darstellen. Wir glauben, dass es notwendig ist, auf der Hut zu sein. Eingriffe in die Evolution, in die Schöpfung – die sollte der Mensch tunlichst unterlassen. Vor über 220 Jahren schrieb Schiller: „Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.“ Eine Warnung, die heute noch gültig ist – und vielleicht aktueller denn je.

Sind Sie an dieser oder einer anderen Ausgabe aus unserem Archiv interessiert? Dann schreiben Sie uns eine Email mit der genauen Ausgabennummer, dem Titel und der gewünschten Stückzahl an:
leserservice@deutsche-wirtschafts-nachrichten.de