Neues Spiel: Wer Deutschland regiert

Neues Spiel: Wer Deutschland regiert

  • Oktober 2017

Deutschland liegt im europäischen Trend: Starke und politische homogene Volksparteien sind die Dinosaurier unter den Parteien. An ihre Stelle treten entweder mehr oder weniger spontane „Bewegungen“, die geschickte Führungspersönlichkeiten hinter sich geschart haben; oder aber sie werden durch Klientel-Parteien ersetzt, die die Interessen von Netzwerken vertreten. Die erste Variante findet sich in Frankreich, wo Emmanuel Macron eine virtuelle Partei mit dem Namen „En Marche!“ mobilisiert hat, um Präsident zu werden. Sie findet sich auch in Österreich, wo Sebastian Kurz die konservative Partei als Hülle für eine personalisierte Liste verwendet. In den Niederlanden dagegen herrscht die Zersplitterung in Kleinparteien, weshalb die Bildung einer Koalition sieben Monate in Anspruch genommen hat. In Spanien hat die Zersplitterung dazu geführt, dass der konservative Ministerpräsident Rajoy monatelang als „provisorischer“ Regierungschef agiert hat. Ähnliche Phänomene sind in ganz Südeuropa, Teilen Osteuropas und den skandinavischen Ländern zu beobachten.

Anders stellt sich die Lage in Ländern wie Großbritannien dar, wo das Mehrheitswahlrecht herrscht: Hier haben es kleine Parteien naturgemäß schwer, eine überproportionale Rolle zu spielen. Der Gewinner erhält das Mandat, seine politischen Vorstellungen durchzusetzen. Allerdings zeigt sich auch in Großbritannien, dass die Volksparteien brüchig werden. Die Konservativen etwa sind in mehrere Flügel gepalten, deren Zusammenhalt einiges an Führungstechnik erfordert.

Mit den neuen Verhältnissen ändert sich auch eine alte, ungeschriebene Regel, wonach es „linke“ und „rechte“ Regierungen gibt: Gesellschaftspolitik, Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik fallen heute oft auseinander. Linke Parteien vertreten rechte Positionen und umgekehrt. Weltbilder und Gesinnung spielen eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund stehen Interessen und Ambitionen. Die Politik, die am Ende gemacht wird, ist meist das Resultat von außerparlamentarischen Konsultationen. Die Wähler werden teilweise systematisch getäuscht oder bewusst in die Irre geführt. Ein Heer von Spin-Doktoren, Meinungsforschern, Psychologen und Freundeskreisen in Medien und öffentlichen Positionen sorgen dafür, dass eine Botschaft ausgesendet wird, die die Wahl sicherstellt, ohne Verpflichtungen eingehen zu müssen.

Die kaum ausgeprägte Gestaltungskraft der Parteien, die vermutlich künftig Deutschland regieren werden, ist ein Hinweis auf eine grundlegende Schwächung aller Institutionen in Deutschland. Dies betrifft Verfassungseinrichtungen wie das Bundesverfassungsgericht oder die Bundeswehr, Unternehmen wie Siemens oder Volkswagen, Gewerkschaften, Kirchen, aber auch die Medien. Die Schwäche der Institutionen ist das Ergebnis einer rasanten und unumkehrbaren Revolution, die mit technologischen Innovationen alle globalen Prozesse in Frage stellt und bestehende Strukturen herausfordert.

Die Parteien, die künftig Deutschland zu Jamaika machen könnten, sind das Ergebnis dieser Entwicklung: Macht wird nicht mehr national oder kontinental ausgeübt. Es ist die Stunde der Netzwerke, die überall auf der Welt und in allen Lebensbereichen Anpassungsprozesse auslösen und Veränderungen erzwingen. Interessant ist die Entwicklung allemal: Denn niemand weiß, wohin die Reise wirklich geht und ob die Regeln, die gestern noch Dogmen waren, morgen überhaupt noch verstanden werden. Zugleich steht auch nicht fest, ob jene Netzwerke, die sich jetzt an der Macht festkrallen, auch morgen noch die sind, die das Leben der Menschen wirklich bestimmen.

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