Vor einem halben Jahrhundert war der 01. Mai in den deutschen Industriestädten ein Festtag für die Arbeiter: Die Massenkundgebungen waren keine Werbeveranstaltungen für die Gewerkschaften. Sie hielten der Industriegesellschaft vor Augen, dass es ohne die Arbeitskraft der Arbeiter keinen Wohlstand geben könne.
Wenn im Jahr 2014 die „World Socialist Web Site“, betrieben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI), zur 1. Mai-Kundgebung ruft, hat diese Veranstaltung einen ganz anderen Charakter. Nicht mehr hunderttausende Arbeiter auf den Straßen geben zu verstehen, dass sie im Herzen der kapitalistischen Maschine arbeiten und diese daher zum Stillstand bringen könnten, wenn ihre starken Arme das nur wollten.
Im Jahr 2014 rufen die linken Parteien der Welt zur „Online-Kundgebung zum internationalen Tag der Arbeit“. So modern die Idee anmutet, so klassisch klingt das Programm: „Die große Mehrheit der Bevölkerung muss Gehör finden! Es ist Zeit, dass sich die Arbeiterklasse in jedem Land erhebt und ihre Ablehnung der Politik der Konzerne und Banken, die die Menschheit in die Katastrophe führt, zum Ausdruck bringt. Auf das Wiederaufleben imperialistischer Gewalt und die Veränderung der Klassenbeziehungen im Interesse der Reichen muss die Arbeiterklasse mehr denn je mit der Parole antworten: ,Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!‘“
Doch die Vereinigung der Arbeiter im Internet ist eine Fiktion. Ihre Rolle ist durch die Globalisierung dramatisch beschränkt: So verlockend die Vorstellung ist, dass alle Arbeiter der Welt sich über das Internet vereinigen – es ist eine unrealistische Annahme. Denn die Arbeiter wollen sich gar nicht vereinen. Wegen des globalen Lohndumpings sind sie tief gespalten. Die Streiks beim Online-Versandhändler Amazon in Deutschland haben das deutlich gezeigt. Jeder Arbeiter weiß, wie leicht er heute durch einen Arbeitskollegen aus einem anderen Land ersetzt werden kann. Und jeder festangestellte Arbeiter weiß, dass er morgen möglicherweise einem Leiharbeiter weichen muss. Doch die unterschiedlichen Arbeitergruppen kämpfen nicht gegen die Unternehmer, um auf weltweit höhere Löhne zu drängen. Sie kämpfen gegeneinander, weil sie nur ein Leben haben und die meisten resigniert feststellen, dass ihnen ein schlecht bezahlter Job lieber ist als gar keiner. Sie haben keine Illusionen, weil sie Familien zu ernähren haben und keine Zeit in grundsätzlichen Kämpfen verlieren können.
Die Globalisierung ist für die Arbeiter zum Fanal geworden. Durch die Billionen an künstlichem Geld, welche die Zentralbanken in den globalen Finanzkreislauf pumpen, ist der Wettlauf um hochprofitable „Assets“ zu einem Kampf auf Leben und Tod geworden. Unternehmen sind der Spielball in einer Welt, in der das staatenlose Kapital nach Anlagemöglichkeiten sucht. Einfallslose Konzernmanager haben heute weltweit nur ein Rezept, um ihre Eigentümer zufriedenzustellen: Sie entlassen Mitarbeiter, um auf negative Wachstumskurven zu reagieren. Früher war das Mittel der Massenentlassung ein US-Phänomen. Heute ist es weltweit üblich.
Zudem wird die Lage der Arbeiter durch ein Phänomen verschärft, das der US-amerikanische Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin als die „dritte industrielle Revolution“ bezeichnet. In seinem neuen Buch „The Zero Marginal Cost Society“ sagt Rifkin das Ende des Kapitalismus für 2050 voraus. Seine Begründung: Das „Internet der Dinge“ – also die totale Vernetzung der realen Welt über das Internet – werde dazu führen, dass die Grenzkosten für die Produktion von Gütern gegen null sinken würden. Dadurch werde sich das Modell der kapitalistischen „Profitabilität“ auflösen. Die Eigentümer werden nicht mehr Konzerne oder Unternehmer sein, sondern eine kollaborative, brüderliche Gesellschaft.
Dieser Optimismus ist vor dem Hintergrund der bisherigen Produktivitätsschübe durch das Internet unberechtigt: Natürlich werden 3D-Drucker, Smartgrids und MOOCS – also Bildung über das Internet – die Kosten dramatisch senken. Doch es ist zu erwarten, dass dies nicht zugunsten der Arbeiterklasse, sondern zum Vorteil der Finanzeliten gereichen wird, die schon heute die großen Konzerne der Welt kontrollieren. Sie werden ihre Vorteile nicht aufgeben, weil sie heute schon stärker vernetzt sind als alle Arbeiterbewegungen der Welt.
Die ersten Vorboten der weiteren Marginalisierung der Arbeiter sind bereits zu erkennen: Lohndumping, Mindestlohngarantien, Versagen der Gewerkschaften, Entsolidarisierung.
Der 1. Mai 2014 ist kein Jubeltag für die Arbeiter. Er führt einer einstmals stolzen Klasse vor Augen, dass sie eine aussterbende Spezies ist. Ihre Ausrottung wird für die globale Gesellschaft nicht ohne Folgen bleiben. Eine Revolution ist denkbar, doch nicht zwingend nötig: Ebenso gut kann es sein, dass die feudalen Tendenzen der Gesellschaft verstärkt werden – mit einigen wenigen Herrschern und vielen Unfreien, die froh sind, wenn sie sich in den Dienstleistungsbetrieben der Eliten verdingen dürfen.