Das neue DWN-Magazin: Die Wahl

Das neue DWN-Magazin: Die Wahl

  • September 2013

Gleich zwei kürzlich veröffentlichte Studien zeigen: Die Deutschen wollen mehrheitlich weniger Souveränität an Brüssel abgeben und lehnen eine gemeinsame Haftung für Schulden in Europa ab. Der Think Tank Europe kam gemeinsam mit YouGov zu dem Ergebnis, dass 55 Prozent aller deutschen Bürger keine intensivere politische Union in Europa wünschen. Zwei Drittel der Deutschen wollen von Fiskalunion, Eurobonds und Bankenrettungsschirmen nichts wissen.

Die Universität Hohenheim kommt in einer Langzeitstudie zu ähnlichen Ergebnissen: Die Eurokrise ist für die Deutschen das wichtigste politische Thema – noch deutlich vor dem Thema Arbeitslosigkeit. Und diese Studie förderte noch ein anderes interessantes Detail zu Tage: 89 Prozent der Deutschen glauben, dass die Politiker ihnen nicht die Wahrheit sagen.

Von besonderer Brisanz erwies sich mitten im Wahlkampf eine völlig unerwartet aufgebrochene Debatte über die deutsche Souveränität. Ausgelöst von dem NSA-Skandal, in dessen Folge Bundeskanzlerin Angela Merkel einräumen musste, dass die deutsche Souveränität tatsächlich nicht voll hergestellt sei, zeigten sich viele Deutsche unangenehm überrascht und enttäuscht: Die meisten waren davon ausgegangen, dass mit der Wiedervereinigung das Thema vom Tisch sein müsste. Merkel verkündete nun, dass ein kleines, in Vergessenheit geratenes Gesetz – das sogenannte G-10-Gesetz – erst jetzt gekündigt worden sei: Man habe Amerikanern und Briten mitgeteilt, dass die Deutschen dieses Gesetz nicht mehr für gültig erachteten. Und somit, so Merkel bei einer Veranstaltung in Stuttgart, sei ja endgültig alles klar: „Damit ist auch in diesem letzten Bereich unsere Souveränität hergestellt. Und ich glaube, damit haben wir eigentlich das Problem gelöst.“

Das ist jedoch nicht der Fall: Historiker und Juristen haben nachgewiesen, dass die deutsche Souveränität durch den NATO-Vertrag und in der Folge durch verschiedene diplomatische Noten und Vereinbarungen nach dem 11. September 2001 nach wie vor in wesentlichen Punkten beschnitten ist.

Diese Erkenntnis hätte jene Politiker, die sich der Wahl zum Deutschen Bundestag gestellt haben, eigentlich aufschrecken müssen. Man hätte erwartet, dass nun ein Aufschrei quer durch die Parteien gehen würde. Die wahlwerbenden Politiker hätten sich geradezu überbieten müssen im Bemühen um die Wiederherstellung der Souveränität Deutschlands.

Das Gegenteil ist der Fall: Eine Umfrage der Deutschen Wirtschafts Nachrichten bei allen Abgeordneten aus dem Deutschen Bundestag ergab, dass nur 9 Prozent der Abgeordneten wollen, dass innerhalb der EU wieder mehr Macht an die Nationalstaaten abgegeben werde. 91 Prozent sind der Auffassung, dass entweder mehr Macht nach Brüssel gehen oder aber eine Mischform bestehen sollte, deren wesentlichstes Merkmal eine vertiefte Integration in EU sein solle.

Das Herzstück der Integration soll, wenn es nach den Politikern geht, eine gemeinsame Haftung für die Schulden in der EU sein: Zwei Drittel der Abgeordneten befürworten genau jene Maßnahmen, die von zwei Dritteln der Bürger abgelehnt werden: Rettungsschirme, Eurobonds, Schuldenschnitt und Schuldentilgungsfonds.

Dieses Ergebnis offenbart eine gravierende Diskrepanz: Es zeigt, dass die Politiker in einer anderen Welt leben als ihre Wähler. Denn auch in einem anderen Punkt denken die Abgeordneten fundamental anders: Während sich die Bürger ohnmächtig über die fortgesetzte Verschwendung von Steuergeldern ärgern – Berliner Großflughaben, Hamburger Elbphilharmonie, Stuttgart 21 – können die Abgeordneten keine Versäumnisse bei der Politik erkennen. Drei Viertel aller Abgeordneten lehnen eine Bestrafung von nachgewiesener Steuerverschwendung ab.

Offenbar haben die Abgeordneten vor der Komplexität der Probleme kapituliert. Sie sind froh, dass ihnen alle wichtigen Entscheidungen abgenommen werden – und fühlen sich für nichts mehr verantwortlich. Sie fügen sich willfährig in die Rolle der Bedeutungslosigkeit, die ihnen von Lobbyisten, Beratern, Experten und Medien tagtäglich suggeriert wird. Die DWN-Umfrage hat daher folgerichtig ergeben, dass in einigen Fraktionen das eigenständige Denken bereits an der Garderobe abgegeben wird: Grüne, SPD und Linke haben „Sprachregelungen“ ausgegeben, als die jeweilige Fraktionsführung von der DWN-Umfrage Kenntnis erlangte. Bei CDU und FDP herrscht zumindest eine gewisse Meinungsvielfalt. Bei Rot-Rot-Grün dominierte dagegen die Copy-and-Paste-Methode. Zahlreiche Abgeordnete haben sich nicht die Mühe gemacht, zu antworten – offenbar schien ihnen das Thema nicht von Bedeutung zu sein.

Das Stimmungsbild, das diese Umfrage ergibt, zeigt einen Riss durch das Land. Er markiert eine für die Demokratie gefährliche Entfremdung zwischen dem Souverän und den von ihm gewählten Repräsentanten.

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