Vor einigen Wochen sorgte ein Zwischenfall in Brüssel für Aufregung. Niederländische Journalisten hatten mehrere Europaparlamentarier dabei beobachtet, wie sie kurz vor Sitzungsende im Parlamentsgebäude erschienen, um sich noch schnell in die Anwesenheitsliste einzutragen. Für ihre Anwesenheit erhalten die Abgeordneten Sitzungsgeld. Auch wer sich nur kurz einträgt, kommt so – ohne zu arbeiten und mit nur wenig investierter Zeit – schnell zu viel Geld: Knapp 300 Euro pro Unterschrift
Als die Journalisten den italienischen Abgeordneten Raffaele Baldassarre zur Rede stellten, spielte sich Bemerkenswertes ab: Die Niederländer fragten Baldassarre auf Englisch, ob er das nicht verwerflich finde. Baldassarre antwortete, noch lächelnd, auf Englisch, dass er sie nicht verstehe. Er wiederholte es mehrfach – immer auf Englisch. Seine Miene verfinsterte sich jedoch zusehends. Schließlich sagte der Abgeordnete auf Italienisch, dass er nicht verstehe. Als die Journalisten nicht lockerließen, schrie Baldassarre die Reporter auf Italienisch an. Als sie weiterfragten, ging der Italiener zum nonverbalen Teil der Begegnung über: Er begann, auf einen der Journalisten einzuprügeln.
Diese Begegnung sagt viel über das Kernproblem der EU: Die Nationen sprechen unterschiedliche Sprachen. Wenn sie wollen, können sie einander verstehen. Wenn sie nicht wollen, bleiben sie einander fremd.
Obwohl die größte Gruppe der Europäer, 18 Prozent, Deutsch als Muttersprache hat, ist Englisch die heimliche Hauptsprache der EU geworden. Zwar haben nur 13 Prozent der Europäer Englisch als Muttersprache, doch ist es zur Umgangssprache geworden, weil es die vermeintlich am leichtesten zu sprechende Sprache ist und sich mit ihr alle Nationen untereinander verständigen könnten.
Wie so oft in der EU hat man sich auch bei der Sprache auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt.
Doch die Folgen sind weitreichend: In der Auseinandersetzung mit den internationalen Finanzeliten und der Wirtschafts-Großmacht USA spricht der angelsächsische Teil der EU in seiner Muttersprache. Alle anderen müssen in einer Sprache radebrechen, die sie oft erst im fortgeschrittenen Alter mehr schlecht als recht gelernt haben.
Die nicht-englischsprachigen Europäer sind in der aktuellen Finanzkrise ganz eindeutig benachteiligt. Nicht nur sind es die Nuancen in Gesetzen, Vertragsentwürfen, E-Mails oder Krisengesprächen, die oft den Ausschlag dafür geben, ob eine Entscheidung so oder anders fällt. Angela Merkel hat in ihrer Jugend Russisch gelernt. Sie kann einer englischen Konversation leidlich folgen. Aber kann sie komplexe Sachverhalte wie Finanzthemen in Sekundenschnelle so formulieren, dass das Gegenüber etwas zum Knabbern hat? Kann sie rechtzeitig Fallen erkennen, die sich hinter Nuancen des Englischen verbergen? Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat sich den Spott der Finanzcommunity zugezogen, als er bei einer Pressekonferenz den unvergessenen Satz sagte: „Zer will be no Staatsbankrott in Greece!“
Kürzlich ist die zynische Häme von irischen Bankern bekanntgeworden, die sich über „ze Germans“ lustig gemacht hatten – darauf vertrauend, dass ihre Worte niemals an die Öffentlichkeit gelangen. In diesem Fall war es gut, dass die Banker die Deutschen in ausgesprochenem Vulgärenglisch beschimpft hatten. Das verstanden auch die Deutschen.
Die Sprache ist nur die Spitze des Eisbergs: EU-Fanatiker fordern, dass alle Europäer Englisch lernen müssten, damit die EU funktionieren könne. Auch Bundespräsident Joachim Gauck, von dem keine einzige Rede in Englisch überliefert ist, fordert, dass das Englische die EU-Belange dominieren solle. Guido Westerwelle, Günther Oettinger oder Rainer Brüderle sind besonders herausragende Beispiele, wie man sich in der Sprache der Finanzwelt und der EU unverständlich ausdrücken kann. Doch selbst Peer Steinbrück, der als Banker besonders viel mit der Finanzwelt zu diskutieren hatte, macht auf Englisch viele Fehler.
Eine Sprache wirklich zu verstehen, ist nur im kulturellen Kontext möglich. Sätze drücken Gedanken aus. Gedanken strukturieren Sätze. Satzkombinationen entscheiden über die Balance, über Gewichtungen, über Wichtiges und Nebensächliches.
Genau diese Facetten entscheiden jedoch über Verstehen und Nicht-Verstehen in einer Demokratie. Dem Sprachen-Kauderwelsch der EU kann jeder begegnen, der auf eine EU-Website geht, um auf den zweiten Blick zu erkennen: Die Vielfalt ist nicht gelebt. Die vielen Sprachen sind eine Fassade. Hinter der Fassade wird Englisch gesprochen. Oft ist es ein merkwürdig künstliches Englisch, dass nicht einmal mehr die Briten und Iren verstehen, wie der Europäische Rechnungshof kritisch bemerkt hat.
Die Demokratie in Europa muss von jedem einzelnen Friulaner, Sorben, Katalanen oder Korsen verstanden werden. Gleichheit vor dem Gesetz heißt nämlich, dass jeder die Gesetze verstehen können muss. Alles andere ist Ideologie, Entmündigung, Diktatur. Nichts davon braucht Europa – auch wenn vieles darauf hindeutet, dass sich der bunte, virulente Kontinent genau in diese Richtung entwickelt.