Sprach-Chaos der EU: Denn sie verstehen nicht, was sie tun

Sprach-Chaos der EU: Denn sie verstehen nicht, was sie tun

  • Juli 2013

­Vor einigen Wochen sorgte ein Zwischenfall in Brüssel  für  Aufregung.  Niederländische  Journalisten  hatten  mehrere Europaparlamentarier dabei beobachtet, wie  sie kurz vor Sitzungsende im Parlamentsgebäude erschienen,  um sich noch schnell in die Anwesenheitsliste einzutragen. Für  ihre Anwesenheit  erhalten  die Abgeordneten  Sitzungsgeld.  Auch wer sich nur kurz einträgt, kommt so – ohne zu arbeiten  und mit  nur wenig  investierter Zeit  –  schnell  zu  viel Geld:  Knapp 300 Euro pro Unterschrift

Als die Journalisten den italienischen Abgeordneten Raffaele Baldassarre zur Rede stellten, spielte sich Bemerkenswertes  ab: Die Niederländer fragten Baldassarre auf Englisch, ob er das nicht verwerflich finde. Baldassarre antwortete, noch  lächelnd, auf Englisch, dass er sie nicht  verstehe.  Er wiederholte  es mehrfach –  immer  auf  Englisch.  Seine Miene  verfinsterte sich jedoch zusehends. Schließlich  sagte  der Abgeordnete  auf  Italienisch,  dass  er  nicht  verstehe. Als  die  Journalisten  nicht  lockerließen,  schrie  Baldassarre die Reporter auf Italienisch  an. Als sie weiterfragten, ging der Italiener  zum  nonverbalen Teil  der  Begegnung  über:  Er  begann,  auf  einen  der  Journalisten einzuprügeln.

Wie beim Turmbau zu Babel untergräbt der Staatenbund der EU seine Integrität durch den Mangel an einer deutlichen Sprache.Diese Begegnung sagt  viel über das  Kernproblem  der  EU:  Die  Nationen  sprechen  unterschiedliche  Sprachen.  Wenn sie wollen, können sie einander  verstehen. Wenn sie nicht wollen, bleiben sie einander fremd.

Obwohl  die  größte  Gruppe  der  Europäer,  18  Prozent,  Deutsch  als  Muttersprache  hat,  ist  Englisch  die  heimliche  Hauptsprache der EU geworden. Zwar haben nur 13 Prozent  der Europäer Englisch als Muttersprache, doch ist es zur Umgangssprache geworden, weil es die vermeintlich am leichtesten zu sprechende Sprache ist und sich mit ihr alle Nationen  untereinander verständigen könnten.

Wie so oft in der EU hat man sich auch bei der Sprache auf  den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt.

Doch die Folgen sind weitreichend: In der Auseinandersetzung mit den internationalen Finanzeliten und der Wirtschafts-Großmacht USA  spricht  der  angelsächsische Teil  der  EU  in  seiner Muttersprache. Alle anderen müssen in einer Sprache  radebrechen, die sie oft erst im fortgeschrittenen Alter mehr  schlecht als recht gelernt haben.

Die nicht-englischsprachigen Europäer sind in der aktuellen  Finanzkrise ganz eindeutig benachteiligt. Nicht nur sind es die  Nuancen  in Gesetzen, Vertragsentwürfen, E-Mails  oder Krisengesprächen, die oft den Ausschlag dafür geben, ob eine Entscheidung so oder anders fällt. Angela Merkel hat in ihrer Jugend Russisch gelernt. Sie kann einer englischen Konversation  leidlich folgen. Aber kann sie komplexe Sachverhalte wie Finanzthemen in Sekundenschnelle so formulieren, dass das Gegenüber etwas zum Knabbern hat? Kann sie rechtzeitig Fallen  erkennen, die sich hinter Nuancen des Englischen verbergen?  Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat  sich den Spott  der Finanzcommunity zugezogen, als er bei einer Pressekonferenz den unvergessenen Satz  sagte: „Zer will be no Staatsbankrott in Greece!“

Kürzlich  ist die  zynische Häme von  irischen Bankern bekanntgeworden, die  sich über „ze Germans“  lustig gemacht  hatten  –  darauf  vertrauend,  dass  ihre Worte  niemals  an  die  Öffentlichkeit  gelangen.  In  diesem  Fall war  es  gut,  dass  die  Banker die Deutschen in ausgesprochenem Vulgärenglisch  beschimpft  hatten.  Das verstanden auch die Deutschen.

Die Sprache ist nur die Spitze des Eisbergs:  EU-Fanatiker  fordern,  dass  alle  Europäer Englisch  lernen müssten, damit die EU  funktionieren könne. Auch  Bundespräsident  Joachim  Gauck,  von  dem  keine  einzige  Rede  in  Englisch  überliefert  ist,  fordert,  dass  das  Englische die EU-Belange dominieren  solle.  Guido Westerwelle, Günther Oettinger  oder  Rainer  Brüderle  sind  besonders  herausragende Beispiele, wie man  sich  in der Sprache der Finanzwelt und der  EU  unverständlich  ausdrücken  kann.  Doch  selbst  Peer  Steinbrück,  der  als  Banker  besonders  viel  mit  der  Finanzwelt  zu  diskutieren  hatte,  macht  auf Englisch viele Fehler.

Eine Sprache wirklich zu verstehen, ist nur im kulturellen  Kontext  möglich.  Sätze  drücken  Gedanken  aus.  Gedanken  strukturieren Sätze. Satzkombinationen entscheiden über die  Balance,  über  Gewichtungen,  über Wichtiges  und  Nebensächliches.

Genau  diese  Facetten  entscheiden  jedoch  über Verstehen  und  Nicht-Verstehen  in  einer  Demokratie.  Dem  Sprachen-Kauderwelsch der EU kann jeder begegnen, der auf eine EU-Website geht, um auf den zweiten Blick zu erkennen: Die Vielfalt  ist  nicht  gelebt. Die  vielen  Sprachen  sind  eine  Fassade.  Hinter der Fassade wird Englisch  gesprochen. Oft  ist  es  ein  merkwürdig künstliches Englisch, dass nicht einmal mehr die  Briten und Iren verstehen, wie der Europäische Rechnungshof  kritisch bemerkt hat.

Die Demokratie in Europa muss von jedem einzelnen Friulaner, Sorben, Katalanen oder Korsen verstanden werden.  Gleichheit vor dem Gesetz heißt nämlich, dass jeder die Gesetze verstehen können muss. Alles andere ist Ideologie, Entmündigung, Diktatur. Nichts davon braucht Europa – auch wenn vieles darauf hindeutet, dass sich der bunte, virulente Kontinent genau in diese  Richtung entwickelt.

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